Der Mensch – ein Säugetier der Traglinge

 

 



Auf Mutters Bauch: sozialer Uterus für den Säugling

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Solveig Albrecht Wahl

Im Herbst 1997 gab es in unseren (norwegischen) Tageszeitungen eine lebhafte Debatte pro und contra Sigmund Freud, seine Theorien und seine Analyse. Ich las Überschriften wie «Sigmund Freud - ein Gott der uns im Stich lies?» (Brøgger, 1997) - und «Die schwarzen Katzen der Psychoanalyse» (Ulvund, 1997). Unter der letztgenannten Überschrift konnte man lesen, das psychoanalytische Denkmodell sei mit schwarzen Katzen im dunklen Raum vergleichbar: Die Analytiker suchten nach ihnen, fänden sie zwar nicht, seien aber trotzdem überzeugt, es sie gäbe dort. Die Psychoanalyse in der Krise. Man bestreitet Freuds Theorie, daß frühe Erfahrungen im Leben eines Menschen eine so entscheidende Bedeutung für dessen weitere Entwicklung hätten, wie er behauptet. Die Schäden, die einem Kind durch Vernachlässigung zugefügt würden, könnten während der Kinderjahren repariert werden. An Freuds Haupterklärungprinzip festzuhalten, Schwierigkeiten hätten ihre Wurzeln in der Vergangenheit, wäre wie an einem alten Span herumzuschnitzen. Weiter heißt es, Kinder trügen dazu bei, ihr eigenes Entwicklungsmilieu aufgrund angeborene Eigenschaften wie zum Beispiel Temperament, zu schaffen. Kinder seien keineswegs hauptsächlich das Produkt der elterlichen Fürsorge. Ganz im Gegenteil könnten einige Kinder ihre Eltern unwahrscheinlich hart auf die Probe stellen! Dann konnte man auch folgende Überschrift lesen: «Hätte Freud der Welt Adolf Hitler ersparen können?» (Gjerstad, 1997)

Ich möchte hier nicht in die Diskussion einsteigen, ob Freud ein Gott der uns im Stich ließ ist. Auch geht es mir nicht darum die meisten seiner Theorien und analytischen Denkansätze zu diskutieren, oder um die Frage, ob die Analyse in einer Krise ist oder nicht. Aber die Debatte in unseren Zeitungen warf für mich die Frage auf, wie es möglich ist, daß die Fachleute auf diesem Gebiet untereinander in diesem Grade uneins sein können? Könnte der Grund all dieses Theorienstreits schlichtweg sein, daß die wenigsten Menschen sich daran erinnern können, wie es sich anfühlte, ein Fötus zu sein, geboren zu werden und viele Jahre lang ohnmächtig dem Gutdünken der Umgebung ausgeliefert zu sein – an eine Zeit, in der man total abhängig und der Umwelt gegenüber ungeheuer sensitiv war, aber sprach- und begrifflos und fast ohne Erfahrung?

Mit diesen Fragen im Hinterkopf möchte ich die Gültigkeit der Frage erörtern, ob frühe Erfahrungen im Leben eines Menschen entscheidende Bedeutung für dessen Entwicklung, und Schwierigkeiten ihre Wurzel in Geschehnissen in der Vergangenheit haben. Ich lege Freud beiseite. Statt dessen möchte ich die Gültigkeit aus für mich bis vor wenigen Jahren größtenteils unbekannten Perspektiven erörtern – ein umfassendes Material, woraus ich hier die wesentlichsten Punkte vorstellen werde. Anhand dieser Präsentation werde ich Stein Erik Ulvunds (1997) Behauptung diskutieren, wonach Kinder selbst dazu beitrügen. ihr eigenes Entwicklungsmilieu aufgrund angeborener Eigenschaften, wie zum Beispiel Temperament, zu schaffen, und damit auch indirekt die Behauptung, Kinder seien nicht in erster Linie Produkt der Fürsorge ihrer Eltern.

Um das obenstehenden Problem erörtern zu können, wäre zunächst folgende Frage zu beantworten: Was braucht ein Säugling / Kleinkind um Eigenschaften wie Vertrauen, Selbstvertrauen, Lebensfreude und Liebesfähigkeit zu entwickeln, und nicht zuletzt die Fähigkeit sich selbst und seine Nachkommen zu beschützen? Die Frage kann auch umgedreht werden: Welche Art Fürsorge erwartet ein Neugeborenes von seiner Umgebung?

Die angeborene Erwartung von Fürsorge - die
primären Bedürfnisse

„Körperliche und emotionale Erfahrungen bilden die Erinnerung des einzelnen Menschen. In jedem neuen Leben werden die stammesgeschichtlichen ( phylogenetischen ) und die persönlichen Erfahrungen ( ontogenetischen ) zu Erinnerungen.“ (Stettbacher, 1992, S. 33) Die gemeinsamen stammesgeschichtlichen Erfahrungen der Menschheit sind für Fachleute mit dem unterschiedlichsten Hintergrund von besonderen Interesse. (Børresen, 1996; Klein, 1995; Liedloff, 1996; Miller, 1997; Stettbacher, 1992, u.v.a.). Es handelt sich um einen wichtigen Faktor bei ihren jeweiligen Versuchen, Theorien über die psychische Entwicklung des Menschen aufzustellen. Unter anderen gehen der kanadische Psychologe Paul F. Klein (1995) und der schweizer Psychotherapeut J. Konrad Stettbacher (1992) davon aus, daß der Mensch mit einer Programmierung oder Erwartung geboren werde, die besagt, daß seine primären Bedürfnisse nach kontinuierlichem Körperkontakt, Nahrung, Trost, Schutz von den Erzeugern wahrgenommen würden. “Wie wir wissen, ist das Nervensystem des Kindes mit einem automatischen Alarm ausgestattet, um Angst bei Trennung von der primären Fürsorgeperson zu signalisieren“ (Klein, 1995, S. 39) (meine Übersetzung). Dies haben wir mit anderen Primaten gemeinsam. Die Angst und die Trauer, die Menschenkinder bei zu früher Trennung zum Ausdruck bringen, sind charakteristisch für alle Säugetiere.

Stettbacher fügt der Liste der primären Bedürfnisse auch die nach Respekt, Verständnisund Achtung hinzu: Ohne Achtung kann ein Mensch nicht leben. Damit das Individuum sich in der Realität orientieren kann, hat es noch ein grundlegendes Bedürfnis: Das Bedürfnis nach wahrheitsgemäßer Information – Information, die der Wirklichkeit entspricht. Der Mensch hat mit anderen Worten auf drei Ebenen Primärbedürfnisse: Auf der körperlichen (somatischen), auf der gefühlsmäßigen (emotionalen) und auf der Verstandesebene (der kognitiven) (Stettbacher, 1992).

Werden diese angeborenen Bedürfnisse befriedigt, so entsteht ein Gefühl von Kompetenz, von Selbstvertrauen und Freude über das Dasein : Mein System funktioniert. Ich werde geliebt, alles stimmt. Das Wort System steht für „ein gegliedertes Ganzes“. „Der Mensch als ein gegliedertes Ganzes ... der Mensch als in sich geschlossenes, nach außen offenes, außerordentlich komplexes, wunderbares und erstaunlich funktionierendes gegliedertes Ganzes, ist ein System mit der Aufgabe, die Selbsterhaltung des Lebewesens zu sichern“ (Stettbacher, 1992, S.19-20). Je größer der Einklang von angeborenen Bedürfnissen und Entgegenkommen der Umgebung, desto freier und selbständiger wird der Mensch und desto besser wird er später mit Frustrationen und Schwierigkeiten fertig (Klein, 1995; Stettbacher, 1992).

Wir können sagen, daß es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Bedürfnis-befriedigung und Liebesfähigkeit gibt („ Liebe ist Leben, Leibsein. Liebe ist aktives Besorgtsein um das Leben. Die Liebe ist durch die Stillung der Lebensbedürfnisse erfüllt“ (Stettbacher, 1992, S. 143)) und zwischen der Fähigkeit sich selbst zu schützen einerseits und der Fähigkeit, Beziehungen einzugehen anderseits. Es gibt auch einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Bedürfnisbefriedigung und der Fähigkeit, sich in der Realität zu orientieren..

Schäden und Folgen

Dem entgegengesetzt: Wenn die Umgebung nicht im stand ist, die angeborenen Erwartungen einzulösen, sondern statt dessen den Säugling/ das Kleinkind Überlastungen aussetzt wie Frustrationen, Manipulationen, Gewalt und/ oder Gleichgültigkeit, so entstehen mehr und mehr Angst und Scham über das Vorhandensein der angeborenen Bedürfnissen: Todesängste, Verlustängste. Es entstehen Emotionen wie Zorn, Wut, Verzweiflung, Schuld, und Haß. Die Überbelastung wird im System des Kindes unbewußt als seine mißlungene Anpassungsleistung registriert: Das Kind sucht die Schuld bei sich, weil es nicht fassen kann, daß seine Erzeuger sich ihm gegenüber naturwidrig verhalten. (Stettbacher, 1992)

Da nun der Säugling sozusagen nur Bedürfnis ist, Bedürfnissen, denen es gehorchen muß, löst der Drang angstbedingte Krampfhaltung oder sogar Krämpfe aus, weil es – seine Bedürfnisse empfindend und fühlend – aufgrund seiner Erfahrung aber Schmerz erwartet, den es vermeiden möchte. Sobald das Bedürfnis stärker ist als die Angst- Schmerzerwartung, wird sich das Kind auch mit Ersatzbefriedigung abfinden .» (Stettbacher, 1992, S.49-50 – meine Heraushebung).

Hat das Kind niemals etwas anderes erfahren, so haben solche von Anfang an negativen Erfahrungen zur Folge, daß
jede Belastung (jeder Streß), die dieser Mensch später erlebt, bereits unter dem bedrückenden Gefühl steht: Ich tauge nichts, ich bin ein merkwürdiges Wesen, mich kann keiner mögen, ich kann mich nicht auf mich selber verlassen, mit meinen Bedürfnissen ist etwas verkehrt. Der Säugling /das Kleinkind wird auf Grund seiner Abhängigkeit und um zu überleben auf diese Weise „gezwungen, erlittene Mißhandlungen, zu verdrängen und zu vergessen, da es sich wegen seiner Schwäche nicht angemessen selbst schützen kann. Es ist den Launen der Erwachsenen nahezu vollständig ausgeliefert“ (Stettbacher, 1992, S. 33-44).

Das Leben vor, während und nach
der Geburt

Es ist erwiesen, daß schon Probleme während der Schwangerschaft oder Probleme auf Grund der Schwangerschaft eine schädliche Wirkung auf die primäre Integrität des Fötus haben – Schäden im ursprünglich gut funktionierenden System. Ein Beispiel: Eine unerwünschte Schwangerschaft und der Wunsch sich einzuschnüren, um die Schwangerschaft zu vertuschen hemmt die Bewegungen des Fötus (Stettbacher, 1992). Oder: Der kanadische Psychologe Andrew Feldmar berichtet von seiner Arbeit mit vier verschiedenen Teenagern, die jedes Jahr wieder zur gleichen Zeit versuchten, sich das Leben zu nehmen. Durch die Gespräche mit den Müttern entdeckte er, daß der Drang, sich das Leben zu nehmen, jeweils in die Zeit fiel, da die Mütter seinerzeit versucht hatten, den Fötus abzutreiben – eine Tatsache, von der die Jugendlichen niemals bewußt Kenntnis erlangt hatten (Feldmar, 1979).

Eine schwere und lange Geburt am Anfang des Lebens ist für einen Menschen ebenso traumatisch wie traumatische Erlebnisse zu einem späteren Zeitpunkt. Ein traumatisiertes Neugeborenes braucht besonders viel Fürsorge und Aufmerksamkeit (Miller, 1997; Stettbacher, 1992). Wenn das Neugeborene nicht kontinuierliche Beruhigung und den
notwendigen Trost – du und ich, wir haben es geschafft, wir waren tüchtig, du lebst, ich beschütze dich – noch monatelang hinterher bekommt, wird der psychische Schmerz und die Desorientierung unerträglich und die Eltern können das anhaltende Geschrei ihres Kindes problematisch erleben, wahrscheinlich ohne sich über die Ursache im klaren zu sein.

Es ist noch nicht viele Jahre her, daß die Nabelschnur des Neugeborenen durchtrennt wurde, ehe seine eigene Atmung richtig in Gang gekommen war. Es verursachte diesem Mensch Erstickungsgefühle. Das Neugeborene wurde an den Beinen hochgezogen, bekam einen Klaps auf das Hinterteil oder wurde in die Geschlechtsorgane gekniffen. Es wurde augenblicklich von der Mutter getrennt, gewogen, gemessen, gewaschen und angezogen, während es schrie und schrie und schrie und bevor es endlich in die Arme seiner Mutter gelegt wurde – aber nur für kurze Zeit. Kontakt von Haut zu Haut war ausgeschlossen! War die Geburt zusätzlich lang und schwer gewesen, bedeutete dieses viele Stunden der Tortur. Anschließend lagen Mutter und Kind getrennt auf der Entbindungsstation und hatten nur zum Stillen nach einem festgelegten Zeitplan – alle drei oder vier Stunden – Kontakt! Veränderung der Routinen auf Entbindungsstationen kam erst Mitte/ Ende der 1970-Jahre. Der französische Geburtsarzt Frédérick Leboyer (1999) war einer der ersten, der den Schrei und den Gesichtsausdruck des Neugeboren als Ausdruck des Schmerzes sah.

Die allermeisten Menschen in unserer Kultur haben solche oder ähnliche dramatische Erlebnisse vom Start ihres Lebens in ihrer (unbewussten) Erinnerung fest eingeprägt. Welche Wirkung hat solche («vergessene») Behandlung auf die spätere Sensibilität eines Menschen gegenüber anderen hilflosen Geschöpfen?

Die Fürsorge der Jäger- und Sammlerkulturen
für ihre Säuglinge und Kleinkinder

Wir hier in unserer industrialisierten Gesellschaft, die wir häufig genug unsere Kinder buchstäblich unnatürlich behandeln, haben viel von der Art zu lernen, wie eine uns nahestehende Spezies, zum Beispiel die Schimpansen für ihre Nachkommenschaft sorgen (Børresen, 1996). Um zu verstehen, welche Art die angeborenen Erwartungen des Menschen sind – welche Art der Fürsorge die Natur von uns erwartet – verweisen z.B. Klein (1995) und Jean Liedloff (1996) auf noch existierende Jâger- und Sammlerkulturen wie das Volk der !Kung San in Nordwest-Botswana (Klein) und der Yequana in Venezuela (Liedloff). Diese Menschen haben in ungebrochener Tradition seit der Steinzeit gelebt – Kulturen die 98 - 99% der Menschheitsgeschichte wider spiegeln. In solchen Gesellschaften wird der Säugling in einer Schlinge auf der Hüfte oder auf dem Rücken der Mutter, des Vaters oder jüngeren Geschwistern getragen. Das Kind ist damit von Anfang an in das soziale Leben und die Tätigkeiten in der Gesellschaft integriert. In der Nacht schläft es bei den Eltern. Auf Grund dieses engen Körperkontaktes werden die Mütter und andre Träger dem Säugling gegenüber sensibilisiert: Die Mutter lernt vorauszusehen, wann ihr Kind aufwachen, essen oder etwas Ausscheiden wird (Windeln werden nicht benutzt). Während des ersten Lebensjahres des Kindes vergehen durchschnittlich sechs Sekunden vom Signal des Kindes bis die Mutter reagiert.

Wenn nicht die Mutter das Kind trägt, das Kind aber weint, bringt der Träger es sofort der Mutter zurück. Der Säugling kann mehrmals in der Stunde an der Brust trinken – auch in der Nacht und es bestimmt selbst wie lange und von welcher Brust es gestillt werden möchte. Diese Episoden werden mit Munterkeit und gegenseitig freudigem Spiel abgeschlossen. Durchschnittlich bekommt das Kind 36 Monate freien Zugang zu Nahrung, Trost, und Schmusen durch das Stillen (Klein, 1995). Ich möchte behaupten, die Mutter bietet ihrem Kind einen sozialen Uterus an. Und genau das ist es was ein Neugeborenes braucht: Einen sozialen Uterus (Stettbacher, 1992). Auch die !Kung Väter werden als nachsichtig ihrem Nachwuchs gegenüber beschrieben. Sie sind liebevoll und entzückt (Klein, 1995). „Es ist bemerkenswert, dass die Zufriedenstellung des Abhängigkeitsbedürfnisses eines Säuglings von keine Volksgruppe übertroffen ist“ (Klein, 1995, S.42 in meiner Übersetzung).

Es zeigt sich, dass Kinder dieser zwei Jäger- und Sammlerkulturen wenig weinen . Sie
sind früher selbständig als die Kinder unserer Kultur, und brauchen so früher weniger
Fürsorge. Yequana-Kinder werden als friedlich beschrieben – ohne Schwierigkeiten das
Zusammenspiel mit anderen Kindern aufzunehmen. Dass Kinder (und Erwachsene) friedlich sind, ist die Konsequenz aus der Tatsache, daß das Schlagen von Kindern im Yequana-Stamm tabu ist, schreibt Jean Liedloff (1996). Liedloff hat zweieinhalb Jahre mit den Yequanas zusammengelebt.

Die wahrscheinlich angeborene Erwartung von Fürsorge hat sich während der ersten 100 000 Generationen der Jäger- und Sammlerkulturen entwickelt als etwas, das notwendig für das Überleben der Art war. 500 Generationen Bauern- und 10 Generationen Industriegesellschaft haben an dieser Programmierung nichts ändern können.

Wissenschaft, Bedürfnisse des Kindes
und transaktionsanalytisches Gedankengut

Bei vielen Menschen aus unserer Kultur findet sich die Haltung, daß einem Individuum, das sich nicht durch Sprache ausdrücken kann, automatisch einen niedrigen Status in Bereichen wie denen des nuancierten Gefühls, der Erlebnisfähigkeit und des Bewußtseins, zuerkannt wird. Und der Weg von niedrigerem Status zur Manipulation und Übergriffen ist oft genug kurz gewesen – auch im Rahmen von Forschungsvorhaben (Börresen, 1996). Ich denke hier an die öffentliche Forschung und Experimente mit und an Neugeborenen und Säuglingen. Da wird schon das wenige Tage, ja Stunden alte Kind vorsätzlich im Schlaf gestört, manipuliert, frustriert, auf Ziele hin trainiert, die für es selbst völlig irrelevant sind – im Interesse der Wissenschaft und strikt im Widerspruch zu seinen eigenen Bedürfnissen. Diese Individuen haben nicht einmal die sprachliche Möglichkeit, zu der Tatsache, daß sie zu Versuchsobjekten gemacht werden, ihr Einverständnis zu geben oder zu verweigern. Unentbehrliche Güter wie Achtung und Respekt kommen augenscheinlich nur den sprachlich kompetenten Erwachsenen in unserer Kultur zu. Welche Wirkung hat es auf ein Neugeborenes oder auf einen Säugling, wenn die Augen, in die es blickt, nicht sein Suchen nach Widerhall, Bestätigung, Liebe widerspiegeln, sondern wenn diese Augen distanziert «objektiv», wissenschaftlich beobachtend sind?

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß die adäquate Fürsorge, die die Mütter und Väter bei dem !Kung San- und Yequanavolk ihren Nachkommen angedeihen lassen (dieselbe Fürsorge, die sie als Kinder selbstverständlich selber erfahren haben), ihren Kindern Sicherheit, frühe Selbständigkeit und ein friedliches Zusammenleben ermöglicht. Mit diesem Wissen müssen wir vielleicht einsehen, daß unsere eigenen Defizite aus ungestillten Bedürfnissen der Säuglings- und Kleinkinderzeit es uns manchmal so «unwahrscheinlich» schwer machen, die Bedürfnisse unserer Kinder in den ersten zwei bis drei Jahren zu verstehen und zu befriedigen.

In dem Buch «Spedbarnsalderen » (« Das Säuglingsalter», Smith und Ulvund, 1991) heißt es: Säuglinge weinen bei physischem Schmerz (z.B. Nadelstichen, anläßlich einer Blutprobe) und bei Unterbrechung einer Mahlzeit. Es wird behauptet, dass sie bei Magenschmerzen wegen Kolik und bei allgemeinem Unbehagen weinen. Es wird weiter behauptet, daß Kinder die viel weinen und sich nur schwer trösten lassen, gewöhnlich wenig empfänglich für Stimulationen aus der Umgebung seien, weshalb ein Risiko für atypische Entwicklung bestehe.

Wir könnten diese Auffassung des Weinens mit Liedloffs Beobachtungen vergleichen: Kinder, welche am Körper getragen werden und mehrmals stündlich von der Brust trinken dürfen weinen wenig und kaum anhaltend! Dieses gibt Grund zur Behauptung, daß die «Stimulationen», die jenen «Risikokindern» angeboten werden, sich unmöglich mit deren tatsächlichen augenblicklichen Bedürfnissen decken können. Ich möchte behaupten, daß dem sogenannten «Weinen wegen allgemeinem Unbehagen» jeweils ganz spezielle Ursachen zugrunde liegen, beispielsweise Trennungsängste, zu seltenes Anlegen an die Brust, eine Streß auslösende Umgebung oder Angst, die von Erlebnissen vor, während oder nach der Geburt herrührt – in jedem Fall also ganz bestimmte Gründe, die das System des Säuglings überlasten. „Die Vorstellung, die Evolution habe eine einzige Gattung dahingehend entwickelt, beim Trinken der Muttermilch unweigerlich an Verdauungsschwierigkeiten zu leiden, ist erstaunlicher Weise von Experten in unserer Zivilisation noch nicht in Frage gestellt worden“ (Liedloff, 1996, S. 77-78),

Es soll hier keinesfalls bestritten werden, daß so etwas wie angeborenes Temperament eines Kindes eine Rolle spielt, im Verhältnis zur «Reizschwelle an der die Gefühle erweckt werden» (Smith und Ulvund, 199) (die Definition für Temperament ist dem Buch „Spedbarnsalderen“ von Smith & Ulvund entnommen). Aber auch hier, wie bei allen anderen Eigenschaften ist die Rede von einem Zusammenspiel zwischen Vererbung und Umwelt. Und in dem Begriff «Umwelt“ ist hier die Umwelt, von der das Kind vor, während und nach der Geburt umgeben war, umfaßt. So weit mir bekannt ist, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, daß die Vererbung im Verhältnis zur Umwelt mehr als zwischen 30 bis knappe 50% ausmacht.

Es sind die eigenen unsicheren Gefühle der Mutter und/ oder des Vaters und eigene Verletzbarkeit gegenüber Abweisungen, die den Teufelskreis im Zusammenspiel hervor rufen. Das Kind oder dessen Temperament kann nicht für die Gefühle der Erzeuger verantwortlich gemacht werden. Das Kind «ist nur Bedürfnis», welchem es folgen muß, und es hat nur eine vorsprachliche Protestmöglichkeit: Das Schreien.

Hier möchte ich behaupten, daß die Theorie – ein Säugling/ Kleinkind trage zu der Entwicklung des eigenen Milieus anhand angeborenen Eigenschaften, wie z.B. Temperament bei (transaktionsanalytisches Gedankengut) – ein verzerrtes Bild der Wahrheit ist. So wie ich es sehe stellt sich die Wahrheit folgendermaßen dar:

1. Ein Entwicklungsmilieu für das Kind zu schaffen oder dazu beizutragen, hat mit Verantwortung zu tun, und eine solche Verantwortung fällt ausschließlich dem Erwachsenen zu. Damit meine ich, daß es die Verantwortung des Erwachsenen ist, Wissen darüber zu haben oder zu erwerben, wie eine gesicherte, geborgene, zuversichtliche Entwicklung geschaffen werden soll. Der Affekt, der durch den expressiven Ausdruck – Weinen/ anhaltendes Schreien – eventuell in den Gefühlen der Erzeuger hervorgerufen werden könnte, hat seinen Ursprung in der Sicherheit des Erwachsenen, in seinem Selbstbewußtsein – oder im Mangel an diesen. Es hat nichts mit dem Kind zu tun.

2. Der Säugling kann nur seine Umgebung in dem Grade beeinflussen, wie seine Signale gehört und korrekt gedeutet werden. Werden sie nicht gehört oder immer wieder falsch verstanden, ist der kleine Mensch machtlos seiner eigenen Situation gegenüber, und sein Unbehagen/ sein Spannungsniveau steigert sich.

Warum schreit Boris

Die jetzt folgende Beobachtung, die die norwegische Geburtsärztin Gro Nylander gemacht, und auf mein Bitten hin aufgezeichnet hat, kann die verzweifelten Versuche eines Neugeborenes anschaulich machen, die seine Not durch anhaltendes Schreien und durch «Hungerstreik» signalisiert; „Auf der Entbindungsstation in St. Petersburg, 1993. Die Neugeborenen werden immer noch fest eingewickelt und sind in einem von den Müttern abgesonderten Bau untergebracht. Eine kleine Prozession von Babys, dicht an dicht, auf mehreren Etagen, kommt zu angegebenen Zeiten, um gefüttert zu werden. Es ähnelt den norwegischen Vorschriften in den 60-Jahre. Skandinavische Stillexperte sollen einen Workshop leiten, weitergeben, wie veränderte Gewohnheiten das Stillen fördern können, ohne daß es einen Pfennig kostet. Wichtig, in einem armen Land, wo die meisten teuren Muttermilchersatz zusätzlich geben, „weil die russischen Frauen die Fähigkeit verloren haben zu stillen“ – wie die norwegischen vor 30 Jahren.

Das Personal ist etwas in der Defensiven, herausfordernd. «Könnt ihr vielleicht Boris in Ordnung bringen? Er ist mehrere Tage alt. Schreit die meiste Zeit. Will nicht an der Brust saugen, weist die Flasche ab, verliert an Gewicht.». Boris ähnelt einer winzigen Mumie. «Was wäre wenn er ausgezogen, und Haut an Haut auf die Mutter gelegt würde?» Etwas irritiert, eine Spur höhnischer Blicke der russischen Ärzte und Hebammen. Sie haben glockenähnliche Kopfbedeckung und kräftige, gekreuzte Arme. Boris wird aus seinen Schlaufen gewickelt. Die Arme kommen zum Vorschein – zum ersten Mal nach der Geburt frei? Die Bluse der Mutter wird aufgeknüpft, ohne daß jemand sie um Erlaubnis bittet, oder ihr etwas erklärt. Splitter nackt – mit erschrockenen Armen und Beinen die herum fuchteln – wird Boris Bauch an Bauch auf Mutters Körper gelegt.

Nichts geschieht. Die Schar steht rastlos um das Bett herum. «Und wie lange soll das dauern!» fragen die Russen, via Dolmetscher. «Das ist schwierig vorauszusehen», antwortet eine schwedische Hebamme. «Vielleicht eine Stunde, vielleicht mehrere Tage ....?» Es dauert vier Minuten! Plötzlich sieht man wie der kleine Boris schnüffelt, schnuppert. Arme und Beine arbeiten. Er schiebt sich selber weiter herauf. Die Hand fuchtelt , greift, geht zu dem Mund. Die Lippen bewegen sich, öffnen sich, suchen. Eine Zungenspitze kommt zum Vorschein, leckt. Der Kopf hebt sich wackelnd. Da geschieht das Wunder. Selbständig findet er die Brustwarze der Mutter, öffnet den Mund, als ob es ums Leben geht. Er saugt intensiv, rhythmisch. Alle Umherstehenden lächeln – erleichtert oder überrascht. «How do you feel» fragt eine westliche Expertin die Mutter, die etwas englisch versteht. Sie sieht hoch und antwortet stotternd aber energisch: «Dis - is -de happiest day in my life!»“

Nach dem ich diese Geschichte gehört hatte, tauchten viele Fragen in mir auf: Hat die Mutter hinterher Boris' Angst, die aus den tagelangen Erlebnissen entstanden sein muß, bewältigen können? Konnte sie geduldig den Schaden reparieren? Was wäre weiter mit Boris und seiner Mutter geschehen, wenn nicht skandinavische Stillexperte ihnen zur Hilfe gekommen wären? Hätte Boris überlebt (durch Zwangsernährung?), oder hätte er lieber, anstatt sich einer solchen Umwelt anzupassen, gewählt wie ein Anorektiker zu sterben? Welche Erklärung für die Ursache des Todes hätten die Ärzte oder Hebammen der Mutter gegeben?

Schaden und Reparation

Wenn Ulvund (1997) meint, daß frühe Erfahrungen in dem Leben eines Menschen oft nicht eine so entscheidende Bedeutung für dessen weitere Entwicklung haben, wie Freud behauptet, weil die Schäden, die ein Kind bekommen hat, während der Kinderjahre repariert werden können, so hat er recht. Ich füge aber hinzu: Unter der Voraussetzung daß der Schaden (die Schäden) richtig erkannt werden. Mit Einsicht und Verständnis, Respekt und intensiver Fürsorge können Schäden in den Kinderjahren repariert werden – auch die Schäden die pränatal entstanden sind.

Aber werden Kinder für eigene Zwecke mißbraucht, manipuliert, verwirrt oder bedroht, werden sie in einer Krise nicht verstanden, getröstet und beruhigt, sondern außer Hörweite gelegt, immer wieder abgewiesen, macht man sich über sie lustig, werden sie angeschrieen, geschlagen... und schlimmeres, ohne daß eingegriffen wird, bekommt später eine solche Behandlung Konsequenzen: Übertriebene Schuldgefühle, Depression, Angst, mentale Leiden, Perversion, Kriminalität, Terror, Gewalt, Pillen-, Alkohol- und Rauschgiftmißbrauch, psychosomatische- und viele andere Leiden. Aber dann können wir uns nicht richtig mehr daran erinnern weswegen – unser Wissen ist verbannt ((Miller, 1988). Für die meisten Erwachsenen fängt die bewußte Kindheit irgendwann im Schulalter an.

Stettbacher beginnt sein Buch „Wenn Leiden einen Sinn haben soll» (1992), auf folgende Weise: «Wenn Leiden einen Sinn haben soll, dann sehe ich ihn nur darin, das Leid aufzulösen. Das bedeutet für mich, die Gründe für das Leid zu suchen und festzustellen, um in Zukunft das Leiden verhindern zu können.“ (S.4). „Wir können unsere Vergangenheit nicht im geringsten verändern, die Schäden die uns in der Kindheit zugefügt wurden, nicht ungeschehen machen. Aber wir können uns verändern, uns «reparieren“ (Miller, 1997, S.11). Wir können die Wahrheit über unsere einzigartige Geschichte anhand der Emotionen finden – unsere primären Bedürfnisse wieder entdecken und sie ernst nehmen. Das Ziel soll sein, unsere primäre Integrität wiederzuerlangen, so daß wir uns endlich der Umwelt gegenüber selbstbeschützend verhalten können, ohne andere anzugreifen, ihnen schaden oder sie manipulieren zu müssen – auch nicht die eigenen Kinder.

Ich danke Dr. med. Gro Nylander für ihren Beitrag

Org.Titel: «På mors mage: sosial livmor til (sped)barnet»,
veröffentlicht im «Impuls», Tidskrift for psykologi (UiO), Nr. 2 - 1998, S. 86 – 91
und im Kognition & Pædagogik (2003), 13, 48, Tidsskrift for tænkning og læring, (DK)
Hier in redigierter Fassung
Aus dem Norwegischen von
Kerstin Albrecht und der Autorin übersetzt (1999).

Literatur

Brøgger, J. (1997, 4. november). Sigmund Freud - en gud som svikter. Aftenposten, s. 11. (Kronikk)

Børresen, B . (1996).
Den ensomme apen. Instinkt på avveier.
Oslo: Gyldendal Norsk Forlag

Feldmar, A . (1979). The embryology
of consciousness: What is a normal pregnancy
In D. Mall, and W. Watts , (Eds),
The psykological aspect of abortion, s. 15-24

Gjerstad, T. (1997, 17. november).
Kunne Freud ha spart verden
for Hitler. Aftenposten , s. 2 (Artikkel)

Klein, P. F. (1995, nr. 1)
The needs of Children
Mothering Magazin , s.38 - 45

Leboyer, F. (1999).
Geburt ohne Gewalt.
Vollständige Taschenbuchausgabe
München: Wilhelm Goldmann Verlag

Liedloff, J. (1996).
Auf der Suche nach dem verlorenen Glück.
(Org.: The Continuum Consept)
München: Beck

Miller, A. (1988).
Das verbannte Wissen..
Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag

Miller, A. (1997).
Das Drama des begabten Kindes.
Eine Um- und Fortschreibung
1. Auflage
Frankfurt am Main: Suhrkamp

Smith, L. & Ulvund, St. E . (1991)
Spedbarnsalderen.
Oslo: Universitetsforlaget

Stettbacher, J. K. (1992).
Wenn Leiden einen Sinn haben soll.
7., erw. Auflage
Hamburg: Hoffmann u. Campe

Ulvund, St. E . (1997, 13. november)
Psykoanalysens svarte katter. Dagbladet, s. 3 (Debatt